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"Ettal - Schwarze Serie" von Georg Mayerhanser

Georg Mayerhanser: „Ettal – Schwarze Serie“, Holz/Stahl. Fotos: fal

Spannungsfeld bildet das ganze Leben ab

Kunstmeile Trostberg ’15: Anregende Fülle ohne überfordernde Reizüberflutung – Von himmelhoch jauchzend bis provozierend kritisch

Von Andreas Falkinger

Da gibt’s Werke, die heißen „Schöne bunte Welt“, „Nest“, „Hausmusik“, „Morgenduft“, „Abendsonne“, „Mein Schatzi“. Und es gibt welche mit den Titeln „Trügerisches Eis“, „Weltverkauf“, „Doch heimlich dürsten wir“, „Macht und Ohnmacht“, „Gefallene“, „Apokalypse“, „Ettal – Schwarze Serie“, „Morte“. Harmonie hier, Kritik, Schaudern und Anklage dort – ein weites Feld, das die Kunstmeile Trostberg ’15 bespielt, ein immens ergiebiges Spannungsfeld. Ein Spannungsfeld, das das ganze Leben abbildet, Höhen, Tiefen, himmelhohes Jauchzen, Depression – auf 1,6 Kilometern.

[sam id=“8″ codes=“true“]Eine derartige Fülle könnte den Betrachter an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit führen, die Reize überfluten. Könnte. Tut sie aber nicht. Woran liegt das? Zum einen daran, dass die Kunstmeile eine vielschichtige, mehrdimensionale Fülle liefert: die Fülle an Themen. Es ist praktisch unmöglich, kein Kunstwerk zu finden, das nicht in irgendeiner Weise die eigene Lebenswirklichkeit bespiegelt. Die Selektion, womit er sich beschäftigen will, worauf er sich ein-, was er zulassen will, bleibt ohnehin jedem selbst überlassen. Die Fülle an Arbeiten: 75 Künstlerindividuen stellen 207 individuelle Werke aus. Daraus ergibt sich die Fülle an Symboliken und Stilistiken, aufgegliedert in verschiedene Materialien, verschiedene Ausdrucksweisen, verschiedene Nuancen der Abstraktion, grundverschiedene Herangehensweisen an die Sujets. Und dazu kommen bei den einzelnen Skulpturen auch noch unterschiedliche Blickwinkel. Die Kunstmeile überrascht, lässt den Besucher permanent Neues entdecken – wenn er das will.

Überall gibt’s Ruheinseln

Der nächste Pluspunkt: die Topografie. Das Ausstellungsgelände ist weitläufig und doch auf den Stadtkern konzentriert. Es zieht sich vom Atrium am Stadtmuseum durch Hauptstraße und Vormarkt über den Postsaal zum Begegnungsplatz an der Jahnstraße, vorbei an der Realschule, ein Abstecher zur Alzchem, zurück zur Mittelschule, vorbei am Stadtkino über die Alzbrücke in die Schulstraße, zum Rosengarten und zurück zum Atrium. 207 Werke auf dieser Wegstrecke werden nicht als geballte Masse wahrgenommen, sie sind mit lockerer Hand verteilt, abgesehen von den Kulminationspunkten Atrium und Postsaal. Den Organisatoren ist es dennoch gelungen, auch diese Zentren nicht zu überfrachten. Die Werke haben und lassen Luft zum Atmen. Niemand muss durch die Meile hetzen, überall gibt’s Ruheinseln, auf dem Begegnungsplatz, der mit Stahlskulpturen und Land Art fast zum Zengarten wird, genauso im blütenprangenden Rosengarten. Momente des Staunens wechseln ab mit Augenblicken der Kontemplation.

So elegant und anregend die Kunstwerke unter freiem Himmel verteilt sind, so gelungen ist die Zusammenstellung in den überdachten Ausstellungsorten. Optimismus und Kritik, Lichtblicke und Dunkelheit, Aufreger und Anreger sind mit Bedacht durchmischt, es gibt kein Schwarzes Loch, das den Besucher in Düsternis zurücklässt. Viel Ernst, aber keinesfalls weniger Humor, Harmonie und die reine Lust am Schönen sind auf der Kunstmeile zu erleben.

Hohen Anspruch an Qualität erfüllt

Das Umfeld ist wie gemacht für die Kunstmeile, doch mit Leben füllen sie erst die Werke und natürlich die Besucher, die mit den Arbeiten in einen Dialog treten. Das funktioniert, weil das Kunstmeilenteam nicht nur einen hohen Anspruch an die künstlerische Qualität der Arbeiten gesetzt hat, sondern weil dieser Anspruch auch erfüllt wird. Wer glaubt, in Trostberg epigonalen, provinziellen Abklatsch zeitgenössischer Kunst zu finden, ist auf dem Holzweg.

Diejenigen, die hier ausstellen, sind allesamt eigenständige, selbstbewusste und – was unabdingbar dazugehört – selbstzweifelnde Künstlerpersönlichkeiten, die ihre Techniken nicht nur beherrschen, sondern auch etwas mitzuteilen haben. Menschen, die sich und ihre Arbeit zur Diskussion stellen, die den Diskurs aushalten, die ihn wollen und brauchen. Sicher wählt jeder einzelne einen eigenen Ansatz, der eine vorwiegend dekorativ, der andere provozierend. Sicher kann nicht jeder Betrachter mit jedem Werk etwas anfangen, aber das ist durchaus beabsichtigt. Mancher wird vor einer Skulptur, einem Gemälde, einer Fotografie stehen und raunen: „Das könnt‘ ich auch.“ Ja, warum machst Du’s dann nicht? Die, die sich der Kritik stellen, haben’s gemacht – und sie können mit Kritik leben. Allein das, abgesehen von Talent und Fähigkeiten, verdiente Respekt.

Ein Stefan Birkel beispielsweise, der akribische Detailversessenheit mit Perfektion im Licht- und Schattenspiel verbindet – und das mit malerischer Raffinesse, die an alte Meister erinnert und diese dabei überholt. Ein Georg Mayerhanser, dessen siebenteilige Skulptur im Zentrum des Postsaals den sexuellen Missbrauch im Kloster Ettal anprangert – vielschichtig nicht zuletzt, weil die düsteren Patres, die an Scary-Movie-Maske und Mönchskarikaturen der Monty Pythons gleichermaßen erinnern, durch die schwungvoll-elegante Bearbeitung und Zurschaustellung des Materials sowie durch den Materialmix aus warmem Holz und kaltem Stahl den eigentlichen Skandal ein weiteres Mal pervertieren. Ein Edi Sommer, der Dalis Formensprache einen regionalen Bezug gibt. Ein Andreas Kuhnlein, der es schafft, Trauer und Fassungslosigkeit dramatisch zerklüftete Gestalt zu geben. Ein Werner Pink, der seinem Spieltrieb freien Lauf lässt und mit seinem alten Rennwagen den Spieltrieb vor allem der jungen und jüngsten Kunstmeilenbesuchern befeuert. Oder Ute Lechner und Hans Thurner, die im Atrium ihr dreiteiliges Werk „Morte“ zeigen – Bronze, Stahl, fünf Metallschälchen mit je einer Handvoll Reis, fünf Totenschädel. Natürlich ist das Anklage, natürlich ist das morbid. Und natürlich ist das auf die Spitze getriebene Symbolsprache. Diese Reihe kann beliebig fortgesetzt werden – von A wie Amler bis Z wie Zimmer, von leicht bis schwer. Ausdruckskraft und Ausdrucksfreude ist allen gemein. Und die Freude daran, den Betrachter einzufangen und zu verblüffen.

Kunstmeile auf der nächsten Entwicklungsstufe

Eine Ausstellung in der Ausstellung befindet sich im Foyer der Heinrich-Braun-Mittelschule. Kinder und Jugendliche aus Trostberg und St. Pantaleon beteiligten sich am Schulprojekt „Migration – und wir?“. In Aufgabenstellung und Ausführung ergänzen die Schülerarbeiten das Kunsterlebnis in Trostberg so folgerichtig wie erfrischend: Die einen rührend in ihrer kindlichen Unbekümmertheit und Naivität im besten Sinne, die anderen anrührend ob der Ernsthaftigkeit, mit der sie an die Aufgabe herangegangen sind. Das Thema hat die jungen Künstler gefordert. Und es hat etwas zutage gefördert, das es unbedingt wert ist, angeschaut zu werden.

Die Kunstmeile hat sich weiterentwickelt. Mit dem Thema des Schulprojekts hat das Organisationsteam der Jugend gezeigt, dass es zu Recht Erwartungen und Vertrauen in sie setzt. Damit ist die Beteiligung der Schüler an der Kunstmeile auf der nächsten Stufe angekommen. Der Pool an Künstlern wurde im Vergleich zur Meile ’13 erneut ausgeweitet – zu Recht, was die Qualität der Arbeiten betrifft und zu Recht, was die Konzentration betrifft: Auch ein etwas komprimierteres Ausstellungsgeläuf verträgt den erhöhten Durchsatz an zeitgenössischer Kunst. Mit ihrer sechsten Auflage beweist die Kunstmeile: Sie ist kein kulturelles Strohfeuer, sie gehört zur Stadtkultur. Sie ist ein weiterer Kunstmeilenstein. Uneingeschränkt sehenswert.

Die Ausstellungsräume Atrium, Postsaal und Mittelschule sind täglich von 15 bis 18 Uhr geöffnet, an den Wochenenden von 10 bis 18 Uhr. Öffentliche Führungen sind für Freitag, 19., und Freitag, 26. Juni, jeweils ab 17 Uhr geplant; Anmeldung unter kultur@trostberg.de, Tel. 08621/801-39. Außerdem bietet die vhs Trostberg eine Führung mit Dr. Lihotzky am Freitag, 19. Juni, um 14 Uhr an. Finissage ist am 28. Juni um 18 Uhr im Atrium am Stadtmuseum. Weitere Informationen gibt’s unter www.kunstmeile-trostberg.de.

(12. Juni 2015)

1 Kommentar

  1. Ein phantastischer Bericht, der detailreich in blumiger, sachkundiger Sprache die Trostberger Kunstmeile 2015 beschreibt. Man bekommt eine bildreiche Vorstellung von Größe und Qualität. Die beigefügten Fotos, die durch angepasste Bearbeitung in Farbe und Perspektive den geschriebenen Worten einen mystisch-romantischen Rahmen verleihen, runden den Bericht perfekt ab. Besser geht´s nicht!  

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